Shenzhen – Chinas Turbostadt in 4 Tagen
Man sagt, Shenzhen ist das Hardware-Silicon-Valley. Aber was heißt das genau? Und China generell, wie ist das denn? Ständige Überwachung, Social Scoring, Malware auf dem Handy und eh alles Copycat? Ob ich will oder nicht, vor meiner Reise sind schon eine Menge Vorurteile im Gepäck. Zeit, das mal mit eigenen Augen zu sehen – ein Auszug aus vier Tagen Shenzhen-Reise.
Tag 1 – Grenzübergang, NIO, WeChat
Nach einem Kennenlern-Dinner geht’s Montagmorgen los. Wir wollen mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Hongkong nach Shenzhen (SZ) fahren. Wir, das sind 12 Gleichgesinnte. Deutsche Unternehmer, Branchen-Kenner und/oder -Interessierte und unsere zwei Organisatoren, Peter Kabel und Jerry Klayman, die SZ wie ihre Westentasche kennen. Wir überqueren die Grenze nach China quasi am Bahnhof. Dutzende Kameras an der Decke, die schwarzen, die man auch aus der U-Bahn kennt, aber auch schwenkbare Kameras, die sich mitbewegen. Man hat direkt ein schlechtes Gewissen, ob man jetzt nicht doch ins Visier des chinesischen Staates gerät.
Die Grenzkontrolle selbst ist aber harmlos. Bei all den Kameras vergesse ich natürlich komplett, dass ich eigentlich vor der Grenze mein Handy in den Flugmodus schalten wollte, zu spät, weiter zum Bahnsteig. Irgendwie habe ich mir einen futuristischen High-Tech-Zug vorgestellt. Innen begrüßt uns aber ein sehr spartanisches Grau-Orange im 1970er-Jahre-Stil. Viel von der Reise sehe ich nicht, alles Tunnel – dunkel draußen.
Unsere erste Station ist NIO, quasi das chinesische Tesla. Es wird eine ganze Lifestyle-Welt um das Auto erschaffen, mit eigener Fashion-Kollektion, exklusiven Events, VIP-Services und ... einem Kindergarten. Na, ob das alles so funktioniert? Beeindruckend aber finde ich Technik und Service, wie z. B. NIO Power Swap, ein stationäres Service-Center, das vollautomatisch die gesamte Batterie des Autos in drei Minuten wechseln soll. Das ist schon Wow.
Zum Abendessen treffen wir Locals und werfen einen Blick auf deren Handy-Gewohnheiten. Ohne WeChat geht hier gar nichts. Chat-Plattform und Bezahlsystem in einem, kann man Geld über QR-Codes senden und empfangen, alles kostenfrei. Die Chinesen kaufen vom Obst auf dem Markt bis hin zu Immobilien alles über WeChat. Kein Cash mehr, keine Kreditkarten. Durch Apps-in-App werden darüber hinaus weitere Services wie Essensbestellungen oder Terminvereinbarungen abgewickelt.
Tag 2 – HAX, HuaQiangBei Market, Shenzhen Bus Company
Am zweiten Tag starten wir bei HAX, ein Hardware-Accelerator, eine Werkstatt für Hardware-Prototyping. Hier können Start-ups und Firmen schrauben, löten, programmieren und testen. Es sieht aus wie in einer großen Garage, kreatives Bastel-Chaos. So soll die Hardware-Entwicklung um Faktor 3 beschleunigt werden. 1 Monat bei uns = 1 Woche in SZ. Das ist schnelles Time-to-Market. Der Clou: HAX sitzt in den oberen Stockwerken des HuaQiangBei Electronics Market. Hier lässt sich jede Elektronik-Komponente besorgen, die man sich vorstellen kann.
Der Markt ist riesig und auf sechs Stockwerke verteilt. Etwas gelangweilte Chinesen sitzen hinter kleinen Tresen und Büdchen und bieten ihre Produkte an: Kabel, Kameras, Sensoren, Leiterplatten, einfach alles, was das Komponenten-Herz begehrt. Aber auch fertige Produkte, Drohnen, Spielzeug, Instrumente, Foto-Elektronik und natürlich Tablets, Handys. So sind auch um den Markt herum allerlei Retail- und Flagship-Stores für bekannte und unbekannte Elektronik-Marken angesiedelt. Fotos machen ist nicht erlaubt. Wie man hier Echtes von Unechtem unterscheiden soll, bleibt mir ein Rätsel.
Es geht weiter zur Shenzhen Bus Company, die den öffentlichen Bus- und Taxi-Nahverkehr in Shenzhen regelt. Zu 75 Prozent staatlich, seit 2018 zu 100 Prozent elektrisch. 12.000 Taxis und Busse, 6.000 Ladestationen über die Stadt verteilt. Dafür braucht es eine Software-Plattform. Die kann man kaufen, der CTO will internationalisieren. Visualisiert wird uns das im Showroom auf einem 3 x 10 Meter großen Screen. Sieht aus wie die Brücke der Enterprise. Man sieht die Buslinien und Busse in Echtzeit. Heatmaps zeigen an, in welchen Straßen die meisten Unfälle passieren. Man sieht die Ladekapazität der Busse, Kameras zeigen Fahrer und Insassen der Busse an. Datenschützer würden im Dreieck springen, aus technischer Sicht aber ganz geil. Und während bei uns über flächendeckendes LTE gefachsimpelt wird, haben hier alle Busse 5G!
TAG 3 – e-NOVA, Ping An, HEMA-Store
Heute pitchen uns ein paar Jungunternehmer bei e-NOVA ihre Ideen. Da wäre z. B. das „Neuro-Nano Team” mit seinen Gehirn-Implantaten. Der Gründer hat in den USA geforscht. Auf die Frage, warum er zurück nach SZ geht, ist die Antwort, dass hier die Versuche an Affen einfacher umzusetzen sind. Die armen Affen.
Dann gab es noch das Start-up „SocialFace-AI”, und da ist er, der Schauer über den Rücken. Das Start-up ist eine chinesische Mischung aus Facebook und Cambridge Analytica. Das Prinzip ist simpel: Man nehme Bilder von Events und anderen Anlässen, kombiniere das mit Computer Vision und gleiche alles mit einer Social-Graph-Datenbank ab. Einmal umrühren und fertig ist die Datenkrake. Technisch nicht wirklich neu, aber der Enthusiasmus des Vortragenden und die Selbstverständlichkeit der möglichen gesellschaftlichen Akzeptanz seiner Lösung war gruselig.
Mein Geld würde ich aber in das „Kamerawerk”-Team stecken. Ein solides Start-up, das mit etlichen Patenten im Gepäck die Stereokamera revolutionieren und bereits 2021 einen ASIC-Chip realisieren will. Mit Intel sei man auch schon im Gespräch.
Nächste Company war der „Accelerator“ der Ping An Group. Ping An? Kannte ich vorher nicht. War aber 2018 wohl die weltweit größte Versicherung, der sechstgrößte Finanzdienstleister und Nr. 28 der Fortune 500 global. Rund 24.000 Mitarbeiter und 25 Research-Labs. Machen mittlerweile Insurance, Banking und Investment und konzentrieren sich technologisch auf AI, Blockchain, Cloud Tech, Big Data und Security. Deren digitale Transformation ist schon seit Jahren abgeschlossen. Zack, zack, zack geht das hier, während wir in Deutschland noch immer von Management by Excel geprägt sind.
Weiter zum HEMA Store von Alibaba. Wenn man genau hinsieht, stehen und laufen überall Mitarbeiter von HEMA in hellblauen Poloshirts mit Einkaufstaschen durch den Laden. Sie packen Taschen für die Kunden, die ihre Bestellungen online aufgeben. Die Kommissionierung findet direkt im Laden statt, parallel zum anderen Verkaufsbetrieb. Dann fährt die Ware an einer niedlichen Transportschiene quer durch den Laden, raus zu den Lieferanten und ab nach Hause. Paradox ist aber: Man kann nicht im Store einkaufen und sich den Einkauf nach Hause liefern lassen, und man kriegt beim Check-out im Store einen Papierbeleg, warum?
TAG 4 – Huawei, DJI, Urbane
Letzter Tag, diesmal Huawei. Der Campus ist riesig und auf ihm steht ein Nachbau des Heidelberger Schlosses. 190.000 Mitarbeiter, davon 80.000 in R&D. Huawei investiert 15 Prozent des Revenues in R&D. Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Wieder Showroom, wieder Enterprise, nur noch knalliger. 5G und WiFi6 ist schon eher ein alter Hut, es geht mehr um redundante und latenzfreie Cloud-Services, Funkstationen für eingeschlossene vietnamesische Fußballmannschaften und um AI, AI, AI.
Da darf die Surveillance-Killer-App nicht fehlen, die uns hier zum Abschluss eindrucksvoll präsentiert wird. So, wie man das von Science-Fiction-Filmen und von einem Besuch in China erwarten darf. Auf einem riesigen Screen sieht man Shenzhen. Man sieht Fahrzeuge fahren, eine Regenwolke zieht rechts über die Stadt, irgendwo brennt es und in unserer Demo kollidieren zwei LKWs auf der Straße. Unser Host tippt auf den Unfall und zoomt in die Überwachungskameras auf der Straße, man sieht den Unfall im Video und sofort werden alle im Umkreis von zwei Kilometern per Handy über das Gefahrengebiet informiert. Egal, ob das schon im Einsatz ist, ich glaube, das beeindruckt viele potenzielle Käufer.
Vorletzte Station ist DJI. Aus dem Consumer-Bastel-Markt kommend, hat sich DJI zu einem riesigen Konzern entwickelt. Der Gründer hat damals in Hongkong kein Startkapital bekommen, erst in Shenzhen ist er fündig geworden. 2006 mit 20 Leuten gestartet, beschäftigt das Unternehmen heute 14.000 Mitarbeiter. Dabei soll weiterhin jedes Produkt-Feature und jede Produktänderung über den Tisch des Gründers gehen.
Zum Abschluss unserer Reise treffen wir Erman Wang, Boss der Urbane Company. Die stellt die E-Tretroller her, die alle Sharing-Anbieter im Programm haben. Und er hat erst im Februar damit angefangen, im November will er Break Even sein. Laut Erman ein riesiger Markt, er hat 200 potenzielle Kunden in der Pipe. Er scheint mir einer der wenigen Gewinner in diesem Markt zu sein. Ein schlaues, aufgeschlossenes und wirklich lustiges Meeting. Ob alle Shenzhen-Unternehmer so sind, wage ich zu bezweifeln, aber er bleibt mir mit Sicherheit sehr positiv im Gedächtnis, genau wie die Reise selbst.
4 Tage, 4 Take Aways
Hunger. Die Leute haben einen ungeheuren Eifer und Arbeitseinsatz. Sie arbeiten, was das Zeug hält, alles scheint für sie aktuell möglich zu sein und jeder will ein Stück vom Kuchen abhaben.
Tech. Software war gestern, Hardware-embedded ist heute. Was einmal als Copycat angefangen hat, ist längst ein Selbstläufer geworden und hat uns überholt.
Mindset. Nicht zuletzt, weil die Stadt so jung ist, aber auch, weil Digital hier keine Angst macht. Das Management ist modern und aufgeschlossen. Digitale Transformation ist ein Mittel zum Zweck und keine unlösbare Aufgabe in den Köpfen.
Autorität. Die Unternehmen, die wir besucht haben, beschäftigen Ex-Regierungsmitarbeiter oder sind extrem gut mit der Regierung verdrahtet. Das öffnet Türen für schnelle Entscheidungen, aber vermutlich schnell auch für Missbrauch.
Was für eine Reise!